Mittwoch, 28. März 2007

Der Weg des Drachen

Eine Dschunkenfahrt durch die Halong-Bucht im Norden von Vietnam

Es war ein Drache«, beharrt An, unser vietnamesischer Fremdenführer. »Ein Drache ist vom Himmel gestiegen, um unser Land vor den Invasoren zu schützen. Dabei hat er mit seinem mächtigen Schwanz wie ein Wilder um sich geschlagen und das Land in tausend Stücke zerschmettert. Danach kam sein Verbündeter, das Meer. Es hat das Land überschwemmt und die Feinde ertränkt.« Nach dem apokalyptischen Spektakel blieb eine der schönsten Landschaften der Welt: Halong.

Eine Bucht im Chinesischen Meer, 1500 Quadratkilometer groß im Norden Vietnams gelegen, mit mehr als 3000 Skulpturen aus Stein – Felseninseln in den unglaublichsten Formen. Mal glatt poliert, mal zerklüftet und schroff, einige kahl, die meisten mit Urwald bewachsen. Die meisten Felsen sind hohl, in ihren steinernen Bäuchen verbergen sich Tropfsteinhöhlen und Lagunen.

Es gibt natürlich eine wissenschaftliche und recht prosaische Erklärung für die Entstehung der Bucht: Einsickerndes Regenwasser hat im Laufe von Jahrmillionen den porösen Kalkstein ausgewaschen. Geblieben sind nur die härteren Gesteinsschichten, bizarre Kegel, löcherig wie kariöse Zähne, deren innere Hohlräume in sich zusammenbrachen, Grotten bildeten und unterirdische Seen. Karstlandschaft nennen das die Geologen. »Nun ja«, gibt An zu, »das mag schon sein. Aber seht doch mal, die Landkarte. Ihr müsst zugeben, wenn man die Augen zusammenkneift und alle Inseln der Bucht zusammen betrachtet, haben sie die Form eines Drachen. Hier: Flügel, Körper und der Kopf mit der langen Nase!«

An, 24, Nickelbrille, ist Reiseleiter und Schiffsmanager auf der Dschunke Jewel of the Bay, einem hölzernen Drachenboot mit roten Segeln und drei Decks für acht Passagiere. Drei Tage lang werden wir mit An und der Jewel of the Bay durch den Halong-Nationalpark schippern, der 1994 von der Unesco zum Weltnaturerbe erklärt wurde. Ally aus Maine, Mitte zwanzig, ist auf Hochzeitsreise mit Tim aus Manchester. Trish und Ralph kommen aus Albany, Westaustralien. Außerdem ist Patricia mit an Bord: Sie betreibt mit ihrem Mann in Sydney ein erfolgreiches Kleinunternehmen; die beiden verkaufen Gartenbewässerungsanlagen. Am besten, so lernen wir auf dieser Reise, bewässert man Gärten unterirdisch. Da kann man literweise Wasser sparen, denn beim herkömmlichen Sprengen verdunstet viel zu viel davon. »Das Geld, das die unterirdische Bewässerung kostet, hast du nach zwei Jahren wieder drin, weil du so viel Wasser sparst«, erklärt Patricia.

Wir beziehen unsere Kabinen: zwei Betten, ein Duschbad, schlichte, helle Rattanmöbel, die im Kontrast zum dunklen Holz der Dschunke recht elegant wirken. Dann holt An zu ein paar grundsätzlichen Erklärungen aus. Die meisten Touristen fahren nur für einen Tag nach Halong, manche buchen eine Nacht auf einer Dschunke. Aber drei Tage, »das ist Spitze! Da werdet ihr ordentlich was zu sehen bekommen«, verspricht An, der englische und russische Literatur studierte, bevor er den Job als Reiseleiter ergattert hat.

Außer An und dem Kapitän sind fünf weitere Vietnamesen an Bord, Matrosen, die auch für die Gäste kochen. Das können sie überraschend gut. Zwar gibt es mittags und abends die immer gleiche Speisenfolge, nämlich Krebs, Tintenfisch, Languste, Barsch, Hühnchen und Obst als Nachtisch – doch jedes Mal sind die Grundzutaten anders gewürzt: pikant, mit Zitronengras und Chili, süßlich, mit Ingwer und Karamell, scharf, mit Fisch- und Chilisauce, würzig, mit Erdnuss-Pflaumensauce oder schlicht, mit Salz gegrillt. Dazu wird Reis gereicht und vietnamesischer Wasserspinat. Aus Paprika schnitzen die Matrosen hübsche kleine Schwäne, Möhren werden zu Pagoden, Tomaten zu üppigen Rosen und Birnen zu etwas, das Patricia an Sydneys Opernhaus erinnert. Ihr missfällt diese Form der Dekoration: »Meinem Sohn würde ich es jedenfalls verbieten, so mit dem Essen zu spielen«, sagt sie.

Es ist diesig in Halong, die tropische Sonne setzt sich nicht gegen die extreme Luftfeuchtigkeit durch. Der Dunst macht die Landschaft noch geheimnisvoller. Immer mehr, immer neue Felsen tauchen auf, scheinen sich vor- und ineinander zu schieben. Manchmal ist die Fahrrinne zwischen zwei Inseln extrem schmal, dann wieder öffnen sich weite Buchten, die den Blick freigeben auf weitere Inseln am Horizont. Ohne Karte und Kompass wäre man in diesem Labyrinth wohl verloren. Nur ein paar Meter weiter sieht derselbe Felsen oft ganz anders aus, was gerade noch rund und sanft war, ist nach einem Perspektivwechsel eckig und schroff. Doch obwohl sie nur aus Wasser und Fels besteht, ist die Komposition dieser Landschaft nie eintönig. Es ist beinahe meditativ, den Felsen dabei zuzusehen, wie sie im Nebel an der Dschunke vorbeigleiten, immer wieder gleich und immer wieder anders.

Wir nähern uns Hang Sung Sot – der 10000 Quadratmeter großen »wunderbaren Höhle«. Am winzigen Pier liegen bereits zwei Dutzend andere Dschunken. Der Kapitän vertäut die Jewel of the Bay in vierter Reihe. An turnt flink über die Decks und Geländer an Land, winkt uns mit großer Gestik und beobachtet vom Pier aus kichernd, wie schwerfällig seine Gäste von Bord kommen.

Mehr als zweihundert Stufen sind es bis zur Höhle, und in der Hitze vergeht beim Treppensteigen selbst An das Lachen. In den Grotten ist es kühl, Kondenswasser tropft von den Decken. An zeigt uns Stalagmiten, die Buddha heißen und Krokodil, sie sind in grellen Gelb- und Grüntönen angestrahlt. Ein anderer Tropfstein hat die Form eines riesigen Phallus, er ist pinkfarben beleuchtet, und An weicht Fragen nach diesem Stalagmiten schamhaft aus.

An den Wänden der Grotte haben Vietcong, die sich während des Krieges hier versteckten, Durchhalteparolen hinterlassen. In einer anderen, noch größeren Höhle war damals eines der wichtigsten Lazarette Nordvietnams eingerichtet. Hier waren die Verletzten sicher vor den amerikanischen Bomben. Und heute wie damals nutzen Fischer die hoch gelegenen Höhlen als Schutzräume vor plötzlichen Fluten oder Taifunen. Mehrere Wochen können sie hier wohnen, denn das Sickerwasser, das in kleinen Seen in den Höhlen steht, ist trinkbar.

Für die Nacht steuert der Kapitän einen der drei offiziellen Ankerplätze an. Es gibt strenge Regeln im Nationalpark, wild übernachten darf hier niemand, und Müll muss am Festland entsorgt werden. In kleinen Booten kommen Händler, die im Stehen rudern, an die Dschunken, holen den Müll ab und bieten ihren Fang des Tages sowie Obst und Gemüse an. Mehr als 2000 Menschen wohnen dauerhaft im Halong-Nationalpark. Allerdings bietet allein Cat Ba, die Hauptinsel, besiedelbare Fläche, die anderen Inseln sind so klein, felsig und steil, dass die meisten Fischer sich aus leeren Ölkanistern und Brettern Flöße bauen, auf denen sie bunte kleine Häuser errichten. Auf den meisten Häusern flattert die Flagge Vietnams: gelber Stern auf rotem Grund.

Beim Abendessen verrät uns Ralph, dass er schon einmal im Land war. »In den Sechzigern, während des Krieges.« Das Gespräch verstummt. Keiner von uns hätte Ralph mit seinem muskulösen Körper für so alt gehalten. Und die meisten von uns wussten nicht, dass 50000 australische Soldaten im Vietnamkrieg waren. Erst jetzt, fast vierzig Jahre später, und nachdem er fast die ganze Welt bereist hat, wagte Ralph, erneut nach Vietnam zu kommen. Trish begleitet ihn nur für ein paar Tage, den Rest der Zeit ist er allein unterwegs, mit sich und seinem Trauma. Vom Krieg aber sei, außer in den Museen, nicht mehr viel zu sehen. »Zum Glück.« Ralph will nicht weiter darüber reden.

Stattdessen erzählt er uns, wie er sich vergangene Woche mit Reisbauern angefreundet hat. Er wollte den schmächtigen Vietnamesen mit den schweren Körben helfen, die sie an beiden Enden einer Bambusstange über der Schulter schleppten. »Es hat lange gedauert, bis ich verstanden habe, wie sie das machen: Sie nutzen die Schwerkraft aus! Jedes Mal, wenn die Stange nach unten fällt, bleiben sie kurz stehen. Dann federt die Last zurück, und diesen Moment der Schwerelosigkeit nutzen sie, um einen oder zwei Schritte zu laufen. Deshalb sieht es immer so aus, als würden sie traben.« Wir verstehen das Prinzip nicht ganz, deshalb steht Ralph auf und führt uns ein paar Schritten vor – es ist der typisch eilige Asiatentrab.

Früh morgens lässt An Kajaks ins Wasser. Wir wollen der aufgehenden Sonne entgegenpaddeln. Vom Wasser aus sehen die Felsen noch größer und steiler aus, und je mehr man sich ihnen nähert, desto besser erkennt man, wie das Salzwasser ihre Fundamente anfrisst: Dort wo die Wellen an den Stein schlagen, ist er bis zu einen Meter schmaler als weiter oben. »Immer mal wieder kommt es vor, dass eine Insel einfach umfällt«, sagt An.

Ohne das Motorengeräusch der Dschunke hören wir Affen auf den Felsen schreien. Wir sehen Reiher, Kormorane und die schwarzen Krabben, die zu Hunderten über die Klippen wuseln. In einem Felsen öffnet sich, wie ein Tor, eine riesige Höhle. Wir paddeln ins Dunkel. Mit einem zirpenden Geräusch ruft An die Fledermäuse, die hier nisten. Die Tiere antworten. Nach einer Weile sehen wir Licht. Die Höhle ist in Wahrheit ein Tunnel, der zu einer Salzwasserlagune im Inneren der Insel führt. Vor Tausenden von Jahren war dies keine Lagune, sondern eine Höhle, so lange, bis ihre morsche Decke zusammenbrach.

Beinahe kreisrund ist die Lagune, von der Außenwelt durch die mehr als hundert Meter hohen Felsen abgeschirmt. Es ist beinahe unheimlich, als in dieser Idylle auf einmal die Sonne durch den Dunst bricht. Das türkisgrüne Wasser ist spiegelglatt und glasklar. Nicht einmal Patricia spricht mehr. Durch einen noch engeren Tunnel paddeln wir zurück ins offene Meer. Der Knoten im Hals löst sich erst, als Tim sich den Kopf stößt. »Hey, mach die Felsen nicht kaputt«, scherzt An.

Die Route, die wir auf unserer Tour gefahren sind, hat An in die Landkarte eingezeichnet. Obwohl die Dschunke große Strecken zurückgelegt hat, haben wir nur einen winzigen Teil von Halong gesehen. Ein letztes Mal sitzen alle auf dem Sonnendeck. Tim und Ally spielen Steineraten. Es geht darum, den Felsen Namen zu geben, die möglichst gut zu ihrer Form passen: Pyramide, Kaffeekanne, Elefant, Schildkröte… Einen kleinen, geduckten Felsen, auf dem wie ein Krönchen ein einzelner Baum wächst, taufen wir Froschkönig. Da mischt sich An ein, der das Spiel bisher nicht mochte. Er zeigt auf eine Felsformation am Horizont, einen schmalen, gebogenen Rücken und zwei kleinere Kegel, direkt davor. Es könnte ein Krokodil sein, das in der Sonne döst. Aber weil An uns mit weit aufgerissenen Augen und freudiger Erwartung in der Stimme fragt »Na, was ist das für ein Felsen?«, antworten wir wie einstudiert: »Ist doch klar, An. Das ist der Drache!«

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